Ciona intestinalis oder die Schlauchascidie
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Style switch
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Reich
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Animalia
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Stamm
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Chordata
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Klasse
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Acopoda
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Ordnung
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Ascidiacea
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Maße
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bis 15 cm
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Vorkommen
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ubiquitär
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Besonderheiten
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Basaler Chordat mit sekundär reduziertem Neuralrohr
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Schutzstatus
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nicht geschützt
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Man stelle sich vor, man sei eine Chordatenlarve, schwimmend im weiten Ozean. Man verfügt schon über so einiges an evolutiv erworbener Grundausstattung: Einen kräftig bemuskelten Ruderschwanz zur Fortbewegung, eine Chorda dorsalis, die einen stützt, ein hoch entwickeltes Schweresinnesorgan (man weiß also, wo oben und unten ist...), aufsitzend auf einem Hirnbläschen, das wie bei den Wirbeltieren mit einem den Körper durchziehenden Neuralrohr verbunden ist, und, nicht zu vergessen, einen Ocellus, mit dem man herannahende Feinde zumindest schattenhaft erkennen kann. Vom Äußeren gleicht man in etwa einer winzigen Kaulquappe. Was würde unsereiner damit anfangen? Klar, vor Feinden hektisch wegschwimmen, gezielt nach Futter suchen, und auf die Metamorphose hoffen, nach der man hoffentlich noch größer, beweglicher, intelligenter und besser auf den Überlebenskampf vorbereitet ist. |
Nun, Ciona hat eine andere Vorstellung: nach ein paar Stunden bis Tagen im marinen Plankton hat dieser Organismus einfach genug vom Stress und begibt sich zum Boden des Meeres. Dort, an einer sorgfältig ausgesuchten Stelle mit hartem Untergrund, setzt unsere kleine Larve sich mit der Kehlregion fest (dazu gibt es eine praktische Papille, die das verwachsen mit dem Boden sehr erleichtert), reduziert Ruderschwanz, Augen, ja sogar fast das gesamte Nervensystem, um fortan nur noch filtrierender Weise ein vollkommen ruhiges, stressfreies Leben zu führen.
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Klingt für uns absurd, funktioniert aber bestens! Ciona, so wie viele weitere Ascidien oder „Seescheiden“, die eine Untergruppierung der Tunikata oder „Manteltiere“ darstellen, hat nicht nur bis heute überlebt, sondern ist auch einer der am weitesten verbreiteten Organismen weltweit und schafft es darüber hinaus sogar noch, anders als fast alle anderen Tiere, regelmäßig an Altersschwäche zu sterben. Würde man diesen von Laien oft als „kleine Schleimklumpen“ titulierten Lebewesen auf den ersten Blick gar nicht zutrauen! Natürlich sind dazu schon noch ein paar Spezialanpassungen nötig... |
Was genau passiert also nun bei dieser merkwürdigen Metamorphose? Das ganze Tier macht praktisch eine 180°-Drehung durch. Die erst unten sitzende Mundöffnung wandert nach oben, in die Nähe des Darmausgangs. Der Ruderschwanz mit der Chorda wird resorbiert, was praktisch ist, weil man dann eine gewisse Zeit seinen komplizierten Umbau fortsetzen kann ohne Nahrung aufnehmen zu müssen. Vermutlich deshalb besteht die Chorda bei diesen Tieren auch aus Dotterzellen, vollgepackt mit Proteinen und Fetten. Dann fallen auch noch Hirnbläschen und Neuralrohr weg. Übrig bleibt nur ein kleines Ganglion irgendwo in der Nähe der Mundöffnung, das gerade ausreicht, um die Körperfunktionen aufrecht zu erhalten und sich ab und zu zusammenzuziehen, wenn der rudimentäre Tastsinn irgendwas unschönes signalisiert. Aber für all diese Verluste an Organen, die unsereiner bestimmt nicht würde missen wollen, kommt bei Ciona auch einiges hinzu. Das wichtigste und auch größenmäßig bedeutendste ist der Kiemendarm. Ohne geht es nicht. Wenn man nicht mehr hinter dem Futter herschwimmen kann, muss man es sich eben heranholen. Und das möglichst effektiv. Ein einziges ausgewachsenes Tier, knapp 15 cm lang, filtriert mehrere Liter Wasser in der Stunde, und gewinnt dabei sogar Nahrungspartikel, die so klein sind, dass sie fast allen anderen Filtrieren durch die Lappen gehen. Beobachtet man eine von Ciona bewachsene Hafenwand, so kann man oft einen etwa einen Meter breiten glasklaren Wasserstreifen erkennen, der von der trüben Hafenbrühe klar abgesetzt ist. Dieser eine Meter kennzeichnet in etwa die Reichweite der Seescheiden. Alle Schwebstoffe entfernt, alle verwertbare Nahrung in die eigenen Kiemendärme geschleust. Natürlich nimmt man dabei unter Umständen auch eine Menge Dreck mit auf, aber davon später mehr... Erzeugt wird der Wasserstrom durch Cilien, die den ganzen Kiemendarm auskleiden. Im Inneren wird das Wasser dann durch ein Schleimnetz geleitet, das über die feinen Kiemenspalten gespannt ist und kontinuierlich auf der Ventralseite nachproduziert wird, während es dorsal mit der daran klebenden Nahung eingerollt wird und in den Mitteldarm wandert. Das gesäuberte Wasser wird, ohne den Darm zu belasten, durch den Atrialraum und die Egestionsöffnung, an der auch der Enddarm mündet, wieder ausgeschieden. Alles in allem das effektivste Filtersystem im Tierreich, da können sich Muscheln und Seepocken nur neidisch umsehen... |
Damit wäre also das „fressen“ gesichert, aber wie sieht es mit dem „gefressen werden„ aus? Gar nicht gut für die möglichen Prädatoren, denn Ciona ist praktisch ungenießbar. Das Tier ist komplett eingehüllt in seine Tunica, zu gut Deutsch „Mantel“. Und diese Hülle besteht aus Cellulose. Nein, ich habe mich jetzt nicht verschrieben, Tunicaten sind tatsächlich Tiere, und zwar die einzigen, die Cellulose produzieren können, bzw. das sogenannte Tunicin, das sich aber von der pflanzlichen Cellulose nur in unwichtigen Details unterscheidet. |
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Und, wie allgemein bekannt, ist Cellulose extrem schwer verdaulich. Man bräuchte symbiontische Bakterien dazu oder Einzeller, aber wer hat die schon? Außerdem ist der Nährwert den Aufwand oft nicht wert. Man könnte natürlich, als Fisch oder als Krabbe, versuchen, diese kleinen Schleimbolzen von Tunikaten zu knacken, um das Innere zu fressen. Nur, das lohnt einfach nicht. Innen ist außer extrem dünnen Epithelien, aus denen Kiemendarm, Darm und Herz bestehen, nicht viel zu holen. Außer vielleicht Gonaden, die aber nur zu ganz bestimmten, kurzen Zeiten. Tatsächlich werden die Gonaden einer anderen Ascidiengattung, Microcosmos, in Frankreich gegessen, was aber wegen der schon erwähnten massiven Aufnahme und Einlagerung von Schmutz und ganz besonders Schwermetallen heutzutage nicht mehr so ratsam ist und langsam aus der Mode kommt. Es endet also damit, dass sich außer einigen besonders penetranten Schnecken niemand wirklich für Ciona interessiert.
Ach ja, überwachsen kann man sie auch nicht besonders gut, sie wehrt sich mit Chemie, und außerdem wächst sie selber so schnell, dass kaum jemand mithalten kann.
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Über das ursprüngliche Verbreitungsgebiet gibt es verschiedene Ansichten, Tatsache ist, das Ciona, bevor sich irgendwelche Forscher ernsthaft für sie zu interessieren begannen, bereits auf Schiffsrümpfen um die ganze Welt gereist war und heute in allen gemäßigten und kalten Meeren und an einigen Stellen sogar in subtropischen und tropischen Gewässern zu Hause ist. Kein Hafen weltweit ohne Ciona, kein Rumpf eines Tankschiffes, und kaum eine Felsküste. In manchen Gegenden ist dieser Organismus so zahlreich vertreten, dass kilometerlange Felsstrände mit einem mehrere Meter breiten Streifen in der unteren Gezeitenzone dicht bewachsen sind. |
Und Ciona ist nicht die einzige Ascidie. Auch andere Gattungen kommen weltweit vor, so z.B. die ausgesprochen hübsche Clavellina. |
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Bei ihr findet man noch eine weitere Besonderheit, die bei Ciona wenig ausgeprägt ist, sonst bei Tunicaten aber zum Standardrepertoire gehört, die Möglichkeit zur ungeschlechtlichen Vermehrung. So was kann sonst kein Chordat, aber Ascidien haben es bis zur Perfektion getrieben. Sie wachsen durch Knospung zu richtigen Kolonien heran. Haben sie dann einen Lebensraum vollständig besetzt, beginnt die sexuelle Vermehrung. Entweder werden Spermien und Eier (Ascidien sind übrigens meist protandrische Zwitter) einfach in die Strömung entlassen, oder die Befruchtung und Frühentwicklung der Larve findet in speziellen Bruthöhlen der Kolonie oder sogar im Körperinneren der Tiere statt. Dann werden die „lieben Kleinen“ freigesetzt, schwimmen los, um während einer kurzen hektischen Phase nach neuen Lebensräumen zu suchen, nur um sich dann wieder für ein stressfreies Leben am Grund zu entscheiden... |
Ein Trostpflaster noch für diejenigen, die trotz aller klar ersichtlichen Vorteile für eine so phlegmatische Lebensphilosophie kein Verständnis aufbringen können: es hat innerhalb der Tunicaten und sogar innerhalb der Ascidien einige gegeben, denen das Rumsitzen und Filtrieren doch zu langweilig wurde, und die sich sekundär wieder einer etwas aktiveren Lebensweise zugewandt haben, aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.... |