Teil 4/4
Leben im Mulm oder das Aquarium „von unten“
Style switch
 
subSilver
 
Nahrungsbeziehungen, Sonstige "Gäste", Herkunft, Unterschiede, Schlußbemerkungen
subMinc
 
Teil 1: Einleitung, Bacteria, Blaualgen, Kieselalgen, Augenflagellaten
Teil 2: Pilze, Wurzelfüßer, Nacktamöbe, Sonnentiere, Wimperntierchen, Platt-, Schlauchwürmer
Teil 3: Rädertierchen, Fadenwürmer, Ringelwürmer, Milben
Printerfriendly

Allgemeiner Teil

Nahrungsbeziehungen

Sonstige "Gäste" im Aquarium

Woher kommen sie alle?

Individuelle Unterschiede

Schlussbemerkungen

Übersicht der Serie 

 

"Mulm (mnd. mul, „zerfallende Erde, Staub“; siehe Mull) ist ein Sediment aus organischem Material, zum größten Teil bestehend aus Bakterien, Mineralien, Pflanzenresten und Stoffwechselendprodukten."

Wikipedia


top
Allgemeiner Teil
Nahrungsbeziehungen

Die nachfolgende Abbildung soll die Beziehungen, die sich zwischen den im Mulm gefundenen Organismen ergeben, noch einmal schematisch darstellen.
Obwohl hier ausschließlich der Aspekt der Nahrungsbeziehungen berücksichtigt wurde, also das einfache „Wer-frißt-wen“-Prinzip, ergibt sich bereits ein hochkomplexes Gefüge, dessen offensichtliche Verworrenheit und Unübersichtlichkeit vielleicht am besten auszudrücken vermag, was für ein engmaschiges und keineswegs einfaches Netzwerk sich zwischen den einzelnen Beteiligten eines solchen Lebensraumes entspinnt.
Ausgehend von einem – hier rot markierten – „Basisdreieck“ von toter organischer Substanz und deren Primärkonsumenten, den Pilzen und Bakterien, entwickeln sich mehr oder weniger lange Nahrungsketten, über die letztendlich so gut wie jeder mit jedem zu tun hat.

Die dabei wiedergegebenen Beziehungen stellen zwar generelle Aspekte dar, dennoch beschreiben sie in diesem Fall nur die spezielle, vor Ort vorgefundene Situation. Das Schema ist sowohl im Hinblick auf die Beziehungen als auch auf die Gruppen unvollständig und kann durch hinzukommende Gruppen und Ernährungsweisen, die sich dann in dieses Gefüge eingliedern, problemlos ergänzt werden.


top
Sonstige "Gäste" im Aquarium

Eine Tierklasse, die in der obigen Aufstellung vollkommen fehlt, ist die der Krebstiere (Crustacea), was dem einen oder anderen bereits aufgefallen sein mag. Dennoch läßt sich ihre Abwesenheit durchaus schlüssig erläutern: zum einen sind selbst Kleinkrebse häufig schon in einem Größenbereich, in welchem sie für Fische als Beuteorganismus nicht nur zunächst mal überhaupt wahrgenommen werden können, sondern auch in Frage kommen. Zum anderen haben solche Tiere teilweise schon deutlich über das in Aquarien erfüllbare Maß hinausgehende Ansprüche an verfügbare Nahrungsmengen. Daß filtrierende Cladoceren (Wasserflöhe) als Arten des Freiwassers im Mulm nicht oder nur durch Zufall anzutreffen sein werden, ist nicht weiter verwunderlich. Ohne eine ständige Phytoplanktonentwicklung oder –zufütterung sind sie im Durchschnittsaquarium ohnedies nicht dauerhaft haltbar. Aber auch räuberische Kleinkrebse, wie Ostracoden (Muschelschaler) oder Copepoden (Hüpferlinge), die durchaus mit den im Mulm vorgefundenen Beuteorganismen ihr Auskommen finden könnten, sind häufig nur temporäre Gäste in den Aquarien. Besonders dann, wenn auch bei ihnen die Nahrung irgendwann knapp wird, zum Beispiel in zu sauberen Becken. Dennoch halten sich vor allem Copepoden in manchen Fällen auch dauerhaft und schaffen es, eine stabile Population aufzubauen.


top
Woher kommen sie alle?

Abgesehen von allem anderen stellt sich aber noch eine zentrale Frage: Wie kommen diese vielen verschiedenen Lebewesen überhaupt ins Aquarium? Die Antwort ist so simpel wie einleuchtend: durch Verschleppung. Ihr Eintreffen kann im Grunde gar nicht vermieden werden. Sie befinden sich auf und in Pflanzen, auf oder in Fischen, in eingebrachtem natürlichem Dekorationsmaterial, sie erreichen unsere Aquarien durch Fremdwasser, durch benutztes Bodengrund- und Filtermaterial, sogar durch Verbreitung von Sporen in der Luft, aber am allerbesten: durch Lebendfutter. Auch mit abgepacktem Lebendfutter aus dem Fachhandel, aber vor allem ist Tümpelfutter die beste Möglichkeit, sein Aquarium (versehentlich) mit allerlei nützlichen und sonstigen „Gästen“ anzuimpfen. Diejenigen, die eine Nische zum Überleben finden, werden umgehend ihre Arbeit aufnehmen und sich im Aquarium etablieren, der Rest wird irgendwann wieder verschwunden sein. Daß dabei allerdings unter Umständen auch ungebetene, möglicherweise fischpathogene Organismen eingebracht werden können, gehört wohl zum kleinen Einmaleins der Aquaristik und ist hinlänglich bekannt.


top
Individuelle Unterschiede

Das Artenspektrum, welches sich schließlich ansiedelt, wird dabei in vielen Fällen ein unvermeidliches buntes Gemisch aus fremden und heimischen Arten darstellen, was eine Artbestimmung zu einer Sisyphusarbeit machen kann. Aber die übergeordneten Gruppen entsprechen sich hier wie dort, erfüllen dieselben Funktionen und lassen sich in der Regel leicht ermitteln. Hinzu kommt, daß viele Formen eine ubiquitäre Verbreitung erlangt haben.

Unterschiede in der Besiedlung des Mulms werden sich einerseits je nach Milieufaktoren (Sauerstoff, Nährstoffe, pH etc.), andereseits auch je nach Beckentyp und den darin gehaltenen Fischarten ergeben. Die beschriebene Mikroflora und –fauna fand sich in einem Raubfischbecken mit mehr oder weniger großen Fischen (Flösselhechte) darin. Diese nehmen auch von größeren Mikroorganismen kaum Notiz und üben deshalb keinen Fraßdruck aus. Die Zönose kann sich somit weitgehend frei entfalten. Ein zum Vergleich überprüftes Aquarium mit Kleinfischen (kleine Barsche, Lebendgebärende, Salmler) zeigte ein deutlich anderes Bild: die Artenzahl war deutlich geringer und in Richtung auf allerkleinste Formen verschoben. Erst in unzugänglichen Bereichen wie im Boden, unter Wurzeln und im Filter fanden sich auch größere, vor allem wurmförmige Arten.


top
Schlussbemerkungen

Abschließend seien mir noch ein paar Bemerkungen zum Mulm in Aquarien per se gestattet. So taucht immer wieder die Frage auf, ob Mulm nun entfernt werden solle oder nicht. Dies ist meines Erachtens zunächst einmal abhängig vom Beckentyp an sich. In einem Quarantäne- oder einem Aufzucht- oder Hälterungsaquarium von Arten, die aus sehr keimarmen Gewässern stammen und womöglich auf solche Verhältnisse angewiesen sind, sollte auf Mulmansammlungen eventuell verzichtet werden. Des weiteren kommt es auf die Menge des Stoffumsatzes im Becken an. In Aquarien, in denen in sehr kurzer Zeit sehr viel Mulm anfällt (durch massive Fütterung, hoch eingeregeltes Pflanzenwachstum), kann sicherlich nicht alles im Becken verbleiben, die Fracht wäre binnen kurzem viel zu hoch. Von diesen Extremfällen einmal abgesehen scheint es, als könnte eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufgestellt werden.
Dabei ist zu bedenken, daß bei allen Vorteilen der Mulm ein optimales Siedlungssubstrat für Bakterien darstellt. Damit wird automatisch die Keimdichte im Aquarium erhöht, was in den meisten Fällen nicht problematisch ist, bei empfindlichen Fischarten mitunter aber heikel werden kann. Darüber hinaus vermögen sich aber nicht nur die gewünschten, nützlichen Bakterien, sondern ebenfalls auch schädliche Keimherde wie die Erreger der Fischtuberkulose hier länger zu halten und können auf diese Weise besonders gründelnden Fischen gefährlich werden, da diese immer wieder mit einer erhöhten Dosis dieser Bakterien in Kontakt kommen.
Auf der anderen Seite besteht der große Nutzen darin, daß die Lebewelt im Mulm auf hoher Ebene dazu beitragen kann, anfallenden organischen Abfall im Becken abzubauen, unschädlich zu machen, zu remineralisieren und in den Kreislauf zurückzuführen. Auf diese Weise können die Nitrifikanten im Filter wirkungsvoll unterstützt und das Milieu im Aquarium effektiv stabilisiert und gesund gehalten werden. Auch können kleine Unfälle, wie unbemerkt verwesende Fische oder Schnecken, wesentlich besser abgepuffert werden als in einem quasi klinisch sauberen Becken. Aber auch hier gilt keinesfalls „viel hilft viel“. Denn im Vergleich zu natürlichen Gewässern haben wir es in Aquarien mit wesentlich kleineren Volumina zu tun, in denen die vergleichsweise wesentlich größeren Materiemengen anfallen.
Selbst wenn die (sauerstoffverbrauchenden!) Zehrungs- und Abbauprozesse bis zur vollständigen Mineralisation ablaufen, so kommt in der dafür benötigten Zeit häufig ein Vielfaches an neuem Material hinzu, so daß eine ständig wachsende Anhäufung von Mulm oft unvermeidlich und ein Gleichgewicht nur schwer zu erreichen ist. Hinzu kommt, daß Detritus und anderes abgestorbenes organisches Material, das nicht sofort wieder in den Kreislauf zurückgeführt wird, in natürlichen Stillgewässern mit der Zeit als Schlamm dem Bodengrund aufgelagert wird und mitunter in tieferen Schichten auch in Fäulnis übergeht. Ein Zustand, der im Aquarium wenig erstrebenswert erscheint.
Die Menge an anfallendem Mulm ist abhängig von der Menge der Produzenten (Pflanzen, Tiere, Futtergaben) den Verbrauchern (Destruenten als Mineralisierer und Pflanzen als Nährstoffzehrer) sowie letztendlich auch der Filterleistung. Hat sich aber tatsächlich einmal ein Gleichgewicht zwischen anfallendem und abgebautem Mulm eingestellt, so spricht nichts dagegen, einen Teil des Mulms im Aquarium zu belassen, wenn sich seine Menge in für Fische und Pfleger erträglichen Grenzen hält. Und schließlich – entfernen läßt er sich jederzeit. Nur sollte man sich auch in solchen Fällen nicht komplett auf die Lebewesen im Mulm verlassen und auf Wasserwechsel verzichten, denn Aquarien sind und bleiben Nährstofffallen und auch die Kapazitäten der Destruenten sind begrenzt. Alles was einmal an Nährstoffen ins Aquarium eingebracht wurde, verbleibt dort – gebunden in den Organismen, im Boden oder aber gelöst im Wasser. Und sie lassen sich nur auf zwei Wegen aus dem Becken entfernen – durch die Entnahme von Organismen und eben: durch Wasserwechsel.
Noch einmal: Mulm kann als Heimstatt für nützliche Kleinstlebewesen dienen, die im Bedarfsdall aus diesem Fundus rekrutiert werden können; Mulm dient als Siedlungssubstrat auch für nützliche Bakterien, die zur Stabilisierung des Stoffhaushalts eines Aquariums beitragen können. Wie groß dieser Beitrag sein kann, hängt allerdings letztlich auch von der individuellen Situation ab.

All die hier abgebildeten Taxa fanden sich in einem untersuchten Volumen, das großzügig berechnet vielleicht 2 Kubikzentimetern an Material entsprach. Und dabei kann hier nur annähernd die Vielzahl der Formen, keinesfalls allerdings die Menge der Individuen wiedergegeben werden, die teilweise in ungeheurer Anzahl auftraten.
All dies in zwei Kubikzentimetern Mulm... man stelle sich vor, was auf der vergleichsweise riesigen Fläche des Bodens eines Teiches, in seinem Pflanzengürtel oder auch nur in seinem freien Wasser los sein mag...
Möglicherweise haben meine Ausführungen ja bei dem einen oder anderen Aquarianer das Interesse geweckt, sich einmal selber ein Mikroskop anzuschaffen, sein Aquarium darunter zu packen und in eine völlig neue Welt einzutauchen. Es lohnt sich!


top

Mit einem herzlichen Dank an Sönke und Christiane von den Berg sowie an Armin Blöchl, die einen wesentlichen Beitrag zum Zustandekommen dieses Artikels geleistet haben.

Arne Hübner, Dezember 2007 - Januar 2008

 

Übersicht des Inhaltes der gesamten Serie

Den Anfang der Serie bildete eine Einleitung und kurze Abhandlungen über Bacteria, Blaualgen, Kieselalgen und Augenflagellaten.
Der zweite Teil widmete sich Pilzen, Wurzelfüßern, Nacktamöben, Sonnentieren, Wimperntierchen, Platt- und Schlauchwürmern.
Der dritte Teil stellte kurz Rädertierchen, Fadenwürmer, Ringelwürmer und Milben vor.
Im vierten und letzten Teil wird im allgemeinen Teil auf Nahrungsbeziehungen, Sonstige "Gäste", die Herkunft des Mulms und dessen individuelle Unterschiede eingegangen und all dies in einigen Schlußbemerkungen zusammengefasst.


top
Quellen
  • KAESTNER, A. (1993): Lehrbuch der Speziellen Zoologie. 5th. ed. Gustav Fischer. Jena, Stuttgart, New York.
  • LAMPERT, W., SOMMER, U. (1999): Limnoökologie. 2nd ed. Thieme. Stuttgart, New York.
  • SCHLEGEL, H.G. (1992): Allgemeine Mikrobiologie. 7th. ed. Thieme. Stuttgart, New York.
  • STORCH, V., WELSCH, U. (2006): Kükenthal Zoologisches Praktikum. 25th. ed. Elsevier. München.
  • STREBLE, H., KRAUTER, D. (2006): Das Leben im Wassertropfen. 10th ed. Kosmos. Stuttgart.
  • WESTHEIDE, W., RIEGER, R. (Hrsg.) (1996). Spezielle Zoologie, Teil 1: Einzeller und Wirbellose. Gustav Fischer. Stuttgart, Jena, New York.

Bilder & Technisches

Alle Abbildungen und Skizzen wurden erstellt von Arne Hübner. Die Proben entstammen den privaten Aquarien. Die Aufnahmen entstanden an einem Zeiss Mikroskop mit einer Nikon Coolpix.
Medienübersicht der übrigen Teile

Teil 1:
Bakterium
Schwinalge - Cyanobakterien Einzelfäden - Cyanobakterie
Kieselalgen
Flagelat 1 - Flagelat 2 - Flagelat 3

Teil 2:
Pilz
Amoebe 1 - Amoebe 2 - Sternchenamöbe
Sonnentierchen
Wimpertierchen 1 - Wimpertierchen 2 - Wimpertierchen 3 - Wimpertierchen 4 - Vorticelle 1 - Vorticelle 2 - Film:Wimpertierchen
Planarie - Mikroturbellar - Turbellar 1 - Turbellar 2

Teil 3:
Rotator - Sessiler Rotator - Bdelloidea 1 - Bdelloidea 2 - Bdelloidea 3 - Film: Raedertierchen
Fadenwurm 1 - Fadenwurm 2 - Fadenwurm 3
Aeolosoma 1 - Aeolosoma 2 - Aeolosoma 3 - Oligochaet 1 - Oligochaet 2 - Huelsenwurm
Milbe 1 - Milbe 2

 

Arne Hübner, Dezember 2007 - Januar 2008


->..oftheweek..-Index
-> Disclaimer
-> top
Konzept und technische Umsetzung: OTW 2.0 by 2003 - 2008
Bilddarstellung: Lightwindow 2.X by Kevin Miller